Die andere Seite der Organspende

„Wir müssen die volle Freiheit haben, die nur aus wirklicher Aufklärung entstehen kann.“
A. Zucker, Arzt, am 9. November 2014 in Göttingen

„Der Hirntod ist nicht der wahre Tod.“
R. Breul, Ärztin, am 9. November 2014 in Göttingen

„Es ist einer der ganz notwendigen Schritte, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche im Gesundheitsbetrieb als Kannibalismusmotor zu identifizieren!“
G. Hummler, Seelsorger, am 5. März 2015 in Göttingen

 

Zur Einführung

Der Organspendeskandal in Göttingen im Sommer 2012 war einigen Menschen Beweggrund, einen Initiativkreis ins Leben zu rufen, der das Thema kritisch beleuchtet. Im Rahmen dieser Aktivität gab es ein Symposium „Die andere Seite der Organspende“. Die Vorträge sind in ihrer Zusammenstellung so einzigartig, daß wir uns entschlossen haben, sie in Buchform herauszugeben.
Zur Einstimmung soll ein Beitrag des Göttinger Pastors Harald Storz wiedergegeben sein, der im März 2014 im Magazin der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden (Kirche für die Stadt“, Nr. 6) veröffentlicht wurde. Er führt genau in die Inhalte ein, die uns am Herzen liegen:

Organspende – Zeichen und Akt der Nächstenliebe?

Mal sind es Meldungen, dass die Bereitschaft zur Organspende nach dem Skandal im Göttinger Uni-Klinikum drastisch zurück gegangen ist, mal sind es die Appelle von Gesundheitspolitikern und Krankenkassen, einen Spenderausweis auszufüllen. Kaum eine Woche vergeht, in der das Thema nicht durch die Medien geht.
Auch kirchliche Stellungnahmen werden in Werbebroschüren gerne aufgegriffen. »Organspende ist ein Akt der Nächstenliebe« – so wurde Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), in der Broschüre einer Krankenkasse zitiert. Mit diesem Slogan steht Schneider nicht allein. Schon 1990 schloss die Erklärung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD mit dem Satz: »Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.«
Dieser knappe Slogan, der differenzierte kirchliche Stellungnahmen sehr verkürzt zusammenfasst, blendet eine Grundsatzfrage aus: die Auseinandersetzung mit dem sog. »Hirntod« als Todeszeitpunkt. Dieser Begriff geht zurück auf eine Kommission der Medizinischen Fakultät der Harvard Universität. Tot sei ein Mensch nicht erst, wenn sein Herz still steht, seine Atmung aussetzt, sein Körper erkaltet, sondern schon, wenn sein Gehirn unwiederbringlich zerstört ist. Der Hirntod berechtige nicht nur dazu, die Geräte abzuschalten, die Herz und Lungen eines Wachkoma-Patienten künstlich am Leben erhalten. Man könne diese Geräte auch weiterlaufen lassen, um dem Hirntoten lebensfähige Organe zu entnehmen.
Diese Definition des Todes widerspricht allem, was Menschen seit Jahrtausenden mit ihren Sinnesorganen als Tod wahrnehmen. Dieser »Tod« des Gehirns ist nur mit Geräten messbar. Alles, was menschliche Sinne sehen, hören und fühlen, spricht dafür, dass ein hirntoter Mensch im Sterben liegt, aber nicht tot ist.
Der Begriff des Hirntodes scheint mir in einer Weise von medizinischen Nützlichkeitserwägungen geleitet, die andere ethische Argumente und die Fragen einer würdigen Sterbe- und Abschiedskultur ausblendet. Nicht erst der Missbrauch, wie er im Göttinger Skandal sichtbar geworden ist, nicht erst der weltweite Organhandel mit seinen kriminellen Auswüchsen machen für mich die Entnahme »lebender« Organe aus dem Körper von »Hirntoten« fragwürdig.
Ich sehe die Würde des sterbenden Menschen und den Abschied von Sterbenden grundsätzlich in Frage gestellt. Viele Repräsentanten der Kirchen plädieren am Beginn des Lebens für enge und vorsichtige Grenzziehungen und rufen zum verantwortlichen Umgang mit potentiellem Leben auf, das man nicht nur Nützlichkeitserwägungen unterordnen solle (z. B. Forschung mit embryonalen Stammzellen). Warum aber folgen kirchliche Stellungnahmen unkritisch einer Definition des Lebensendes, die alles andere als eindeutig ist? Daher halte ich den vielzitierten Slogan, dass Organspende ein »Akt der Nächstenliebe« sei, in dieser Pauschalität für fragwürdig.
Diese Überlegungen haben mich dazu bewogen, einen Organspendeausweis auszufüllen, in dem ich von meinem Recht Gebrauch mache, einer Entnahme von Organen oder Geweben zu widersprechen. Zusammen mit der Karte, dass ich eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ausgefüllt habe, liegt dieser Organspendeausweis in meinem Portmonee und gibt meinen Angehörigen und Ärzten einen verlässlichen Anhalt, was ich in schwierigen Entscheidungssituationen wünsche.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe behauptet in seinem Grußwort für den Tag der Organspende, 2015:
Wir wissen inzwischen – wer gut über Organspende informiert ist, steht dem Thema aufgeschlossener gegenüber und ist eher bereit nach dem Tod seine Organe zu spenden.“
Sind Menschen wie der Göttinger Pastor nur zu wenig informiert? Oder die Ärztin und Hirntod-Expertin Regina Breul, die beim Göttinger Symposium resümiert: Organspende sei „Töten unter dem Deckmantel der Nächstenliebe“?
Wir wissen inzwischen – der Bundesgesundheitsminister, die Kollegen in den Ländern, die Krankenkassen und die DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) betreiben keine lückenlose Aufklärung. Deswegen möchten wir mit diesem Buch eine erweiterte Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellen.
Weil das in allen Weltreligionen zentrale Gebot der Nächstenliebe bei einer persönlichen Entscheidungsfindung grundlegend ist, haben wir der religiös-christlichen Sichtweise auf das Thema einen breiten Raum gegeben.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Helfern und Unterstützern des Initiativkreises, besonders bei Herrn Dr. Geck und seiner Frau, Pater Schneider, ebenso bei allen Referenten für ihr Engagement bedanken.
Göttingen, im Juni 2015
Stephan Holzhaus, Herausgeber

Titel_Organspende

226 Seiten, 1. Auflage 2015
Einzelpreis: 12,00 EUR
zzgl. Versandkostenpauschale